Ich liebe es, zu sterben
Jeden Tag werde ich geboren. Jeden Tag werde ich aufs Neue aus dem Schlaf gerissen, wie ein Neugeborenes auf die Welt gebracht. Nur sieht niemand meinen neuen Tag für meinen ersten. Sie zählen meine Tage, setzen jeden der vorhergegangenen für den jeweils nächsten voraus. Doch bin ich jeden Tag nicht mehr, als ein fast blindes, hilfloses Kind. Ich bin überfordert von all den Eindrücken, dem grellen Licht und dem Lärm. Alles um mich herum bewegt sich nach einem festen Muster, als spielten alle ein Spiel mit festen Regeln. Alle kennen diese, nur ich nicht. Ich verstehe nicht woher sie kommen und weshalb sich alle an sie halten. Ich will hier weg, es wird mir zu viel.
Ich versuche wieder zu schlafen, im Schlaf, vor meiner Geburt, war alles ruhig. Dahin sehne ich mich. Das wimmelnde Treiben um mich herum hält mich vom erlösenden Schlaf fern.
Ich gebe mich geschlagen. Ich stehe auf und sehe ein Fenster. Ein Mensch steht da. Er kratzt sich am Kopf. Warte, dies ist kein Fenster. Dies ist ein Spiegel, der Mensch bin ich. Ich starre mich an. Ich sehe nicht aus wie ein neugeborenes Kind. Neugeborene haben keinen Bart. Dafür weichere Haut. Ich drehe mich weg von meinem Spiegelbild und betrete eine Strasse, auf welcher es nur so wimmelt von Menschen. Ich bin auf einem Markt. In einer Tasche finde ich ein paar Münzen und kaufe mir einen Fisch von einer lauten Frau. Ihr Mann muss den Fisch früh an diesem Morgen gefangen haben. Der Fisch schmeckt nicht besonders doch er und eine alte Scheibe Brot, welche ich in meinem Mantel gefunden habe, stillen meinen Hunger. Am Brunnen fülle ich meine Flasche und trinke das kühle Wasser in grossen Schlucken. Ich wasche mein Gesicht und schlendere zur Klippe. Das Meer ist still an diesem Mittag. Ich beginne gemächlich der Klippe entlang zu gehen. Meine Gedanken wandern von den fernen Wolken zum bevorstehenden Regen und dem begleitenden Kunstwerk, dem Gewitter. Dabei summe ich leise vor mich hin, eine Melodie, welche mich an lang vergessene Träume erinnert. Später gesellt sich Johann zu mir und beginnt ohne Umschweife von seinem Schultag zu sprechen. Johann ist kein besonders guter Schüler, da er eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne hat. Er ist ein noch weniger begabter Lehrer. Doch höre ich ihm geduldig zu, wie er von mathematischen Formeln und Grammatik erzählt. Letzte Woche hat er mir das Zählen beigebracht und nun will er bald mit dem Alphabet beginnen. Ich lache nur. Viele Menschen wollten mir das Alphabet erklären, doch kenne ich die Regeln nicht. Genau wie die Regeln des Lebens verstehe ich sie nicht.
Johann packt zwei Äpfel aus und gibt mir einen. Ich müsse ihn essen, das sei gesund. Ich esse den Apfel. Jedoch nicht, weil er gesund ist. Ich esse den Apfel, weil Johann ihn mir gegeben hat und ich Johann mag. Ausserdem mag ich Äpfel. Nun erzählt Johann von einem Mädchen aus der Schule. Sie ist hübsch und gescheit. Doch mag sie Johann nicht, weil er keine guten Noten schreibt. Und weil Johann mit mir spricht, das sagt er zwar nicht, doch wir beide wissen es. Es wird gemunkelt, dass ich einen schlechten Einfluss auf die Kinder der Siedlung habe, mit meinen Fragen nach dem Nutzen des Lebens.
Johann fragt mich, ob ich ihm helfe Holz für sein Zuhause zu besorgen. Bald werde es Winter und kalt. Seine Mutter habe ihm den Auftrag erteilt, Holz zu besorgen. Ich helfe Johann gerne. Ich habe kein Haus, für welches ich Holz brauche im Winter. So laufen wir weg von der Klippe zum Wald. Im kühlen Schatten trinken wir Wasser, die Mittagssonne hat uns aufgewärmt. Wir fällen einen Baum und machen kleine Holzscheite. Mit den Rucksäcken, welche uns Johanns Mutter gegeben hat, tragen wir das Holz zum Haus. Johanns Mutter belohnt unsere Arbeit mit einem Stück Kuchen und einem Krug warmen Tees. Ich bedanke mich bei ihr, sie ist eine gute Frau. Sie freut sich, dass Johann einen Freund in mir hat. Als sich die Sonne langsam über die Spitzen der Baumkronen senkt, verabschiede ich mich. Mein Rücken schmerzt von der harten Arbeit. Ich laufe langsam zurück zur Klippe. Das Meer ist nun stürmisch geworden, das Gewitter ist nah. Ich erkenne die Wellen im Licht der Sterne. Ich setze mich an den Rand der Klippe und esse einige Beeren, welche ich aus dem Wald mitgebracht habe. Der Mond spiegelt sich im unruhigen Wasser. Ein kühler Wind zerrt an meinen Knochen. Dunkle Wolken ziehen auf und verdecken den Mond und die Sterne. Die ersten Regentropfen fallen mir schwer ins Gesicht. Während der Regen niederprasselt erleuchten gleisende Blitze gefolgt von dröhnendem Donner das Meer. Lachend bestaune ich die wunderschöne Apokalypse.
Ich kehre in die Siedlung zurück und lege mich unter ein Vordach. Jeden Tag freue ich mich auf meinen Tod doch schaudere ich zugleich meiner Geburt. Ich weiss noch, wie ich da gelegen bin. Alles ist plötzlich entschwunden. Und genauso plötzlich wieder aufgetaucht. Ich bin müde. Endlich kann ich wieder schlafen. Ich liebe es, zu sterben.
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